In den letzten Monaten zeigt sich immer wieder das Thema "Wut" in meiner Praxis. Die unglaubliche Wut, die sich in inneren Anteilen mit einer Intensität nach oben drängt. Es brodelt in uns...
In Einzelarbeiten: Gegen sich selbst, bei familiären und kollektiven Themen.
In Gruppen: Wo man manchmal nicht mehr unterscheiden kann... ist es meine Wut oder die des anderen?
Gesellschaftlich: Ängste werden geschürt, damit Menschen wütend aufeinander losgehen.
Wut gegenüber dem anderen Geschlecht: in Beziehungen, in Ehen, in der Arbeit.
Wut gegenüber den eigenen Kindern: Dass sie nicht so funktionieren wie man es sich vorstellt. Dass sie einen an die eigenen unverarbeiteten Themen erinnern. Dass sie überhaupt so viele Gefühle zeigen.
Und dabei immer wieder: Wut, die sich gegen sich selbst richtet. Die sich in aufgeblähten Bäuchen zeigt, Darm- und Magenproblemen, Unverträglichkeiten, Probleme mit der Schilddrüse und der Stimme, Krebs, uvm.
Ein Mädchen darf nicht wütend sein
Wütend sein darf man nicht. Vor allem nicht, wenn man ein Mädchen ist. Mädchen haben brav zu sein, lieb zu sein, nett auszusehen. Wütend sein geht gleich fünfmal nicht, wenn sich die Wut gegen die eigenen Eltern richtet. Gegen ein Familienleben, dass nicht mal auf dem Papier besteht. Gegen Fassaden, die krampfhaft aufrecht erhalten werden. Gegen unterdrückte Gefühle. Gegen Lügen. Gegen ein Nicht-Gesehen-Werden. Wütend sein auf Brüder, weil ihnen mehr erlaubt wird. Gegen die Ersatz-Mutter-Rolle bei jüngeren Geschwistern.
Und als Frau im Beruf?
Da hat man seine "Tage", wenn man wütend ist. Wahrscheinlich nicht genügend Sex. Nein, eine starke Frau ist man dann nicht. Und wird bestimmt auch nicht erfolgreich im Beruf. Denn seine Gefühle hat man in den Griff zu kriegen!
Unterdrückte Wut ist wie ein Tanz auf dem Vulkan
Was passiert aber, wenn man seine innere Wahrheit leugnet? Wenn man sie nicht ausspricht? Wenn man sich klein macht? Wenn man immer konform lebt. Wenn es nur Harmonie geben darf. Wenn man seine Gefühle unterdrückt, weil sie vermeintlich schlecht sind, nicht richtig, nicht sein dürfen? Nun ja, man "unter-drückt" sie, d.h. diese Gefühle stehen "unter Druck".
Wut, einem Bild zu entsprechen, dass die Eltern und Großeltern von einem haben. Zum Beispiel ein braves Mädchen zu sein. Zum Beispiel als Erstgeborener oder Erstgeborne vernünftig zu sein, zurückzustecken, Babysitter zu sein.
Wut, weil man seine wahren Wünsche unterdrücken muss.
Wut, weil man seine Gefühle ständig unterdrückt.
Wut, weil man sich nicht autenthisch zeigen mitteilen darf. Dazu gehört übrigens auch das Fluchen.
Wut, weil man sich für seine Eltern und das Familiensystem aufzuopfern hat.
Wut gegenüber dem eigenen Körper. Sich flüchtet in Religiösität, Spiritualität. Keinen Sex mehr haben will - oder viel zu viel. Ihn mit Süchten überschemmt.
Wut, weil man nicht sein wahres Selbst lebt. Gegen seinen innere Bestimmung.
Habe ich nicht erfahren, dass Wut sinnlos ist? Habe ich nicht erfahren, dass mich keiner ernst nimmt, wenn ich wütend bin? Habe ich nicht erfahren, dass Wut zerstören kann, hässlich ist? So ist es. Und darum suche ich mir jetzt die Gefühle aus, die ich fühlen darf. Nur die "schönen", nur die "guten" Gefühle zeige ich.
Alles was unter Druck steht, schießt irgendwann einmal nach oben, explodiert. Entweder bekommt ein Unbeteiligter die Wut ab oder gerade die Menschen, die man am meisten liebt. Und eines ist gewiss, Körper und Psyche werden sich melden und sagen: "Jetzt reicht es uns!"
Im Alter wird es schlimmer
Wer seine eigenen Bedürfnisse immer und immer wieder verleugnet, verneint, verdrengt, wegsperrt, kleinredet, schlechtredet - bei dem wird sich die Wut irgendwann massiv gegen sich selbst richten. Bis Mitte 40 lässt sich das Gefühl vielleicht noch halten, aber spätestens ab 50 drängt sich die Wut immer stärker nach oben.
Sie sucht ein Ventil. Jetzt fängt der Körper an zu rebellieren. Und wenn es ganz schlimm wird, dann greift man sich selber an. Dann beginnt der Krieg im Inneren. Dann werden die eigenen Anteile angeschrien, verurteilt, abgewertet und man wünscht ihnen - und damit sich selber - den Tod.
Unterdrückung durch Medikamente
Wenn die Religion es nicht schafft, diese Gefühle zu unterdrücken, spätestens die Medikamente sind dann erfolgreich. Ganze Generationen an Kindern und Erwachsene schlucken Anti-Depressiva. Gerade die Wut wird damit in Schach gehalten.
Was steckt hinter der Wut?
Vor allem tiefer Schmerz und tiefe Traurigkeit und unglaubliche Einsamkeit. Aber das Leid ist so viel ehrenvoller als die Wut. Leiden wird anerkannt. Wut nicht. Auch wenn das bedeutet, dass ich mich weiter selber belüge, Offenheit und Warmherzigkeit sehr oft vortäusche. Dahinter verberge ich, wie ich mich wirklich und wahrhaftig fühle. Lieber werte ich mich weiter ab, lieber verneine ich das weinende Kind, das vor Einsamkeit nicht weiß was es tun soll. Dass emotional seine Eltern nicht erreichen kann.
Wenn diese wahren inneren Emotionen in der Selbstbegegnung nach oben kommen, wenn man erkennt, dass man das nicht einmal gemerkt hat ... dieser Gedanke ist kaum zu ertragen! Also wehre ich mich mit ganzer Kraft dagegen.
Meine Wut
Obwohl die eigene innere Wut zu fühlen so wichtig ist. In einem geschützten sicheren Raum sie zu sehen, sie wahrnehmen zu können, ihr zuhören zu können. Das ist so berfreiend! Und macht ruhiger. Ruhiger und klarer.
Denn mit der Zeit erkennt man: Ist es überhaupt meine Wut? Oder gehört die Wut zu jeman ganz anderen? Fühle ich überhaupt wirklich Wut oder verstecke ich meine tieferen Gefühle dahinter? Und wie beim Fluchen: manchmal tut es einfach so unglaublich gut, wütend zu sein! Sich selbst eine Stimme zu geben. Wie ein Gewitter im Frühling.
Und das Wichtigste: Wut kann ein unglaublicher Motor sein. Ein Motor für Veränderung. Ein Motor, sich noch tiefer zu fühlen. Ein Motor, um sich abzugrenzen. Ein Motor, durch den man sich seiner eigenen Kraft wieder bewusst wird.
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