Die unsichtbare Mauer – Wie Millennials den Fachkräftemangel selbst schaffen (und die Gen X dabei übersehen)
- Natalie Walther

- 16. Okt.
- 7 Min. Lesezeit
Ein offener Brief an die Millennial-Führungskräfte & Personaler: Qualifikation ist nicht dasselbe wie Kultur-Fit.
In den deutschen Chefetagen und HR-Abteilungen hört man ständig die Klage: Es gäbe einen Fachkräftemangel. Die Stellen blieben offen, die Talente fehlten. Doch wer genauer hinschaut, entdeckt ein tief verwurzeltes Paradoxon, das diesen Mangel nicht nur erklärt, sondern ihn selbst verursacht: den unbewussten Generationen-Bias der Millennials gegen die hochqualifizierte Generation X.
Der Vorwurf ist hart, aber die Muster sind in Recruiting-Prozessen erschreckend klar.

1. Die große Verwechslung: Pragmatismus vs. Inkompatibilität & Passion
Die Generation X (geboren ca. 1965–1980) ist die pragmatische, autonome und leistungsorientierte Kraft, die nach jahrzehntelanger Erfahrung oft genau die Stabilität und das Know-how mitbringt, das Unternehmen heute suchen. Sie sind mit viel Herz bei der Arbeit und definieren Engagement über gezeigte Resultate und Verlässlichkeit; nicht über die Rhetorik der Selbstverwirklichung.
Doch Millennial-Führungskräfte, Mitarbeiter und Personaler, die Arbeit als Sinnsuche verstehen, projizieren ihre eigenen emotionalen Ansprüche (Purpose und Vision) auf die Gen X. Hochkarätige Bewerber werden aussortiert – und die Lücke im Organigramm wächst weiter.
Merkmal | Gen X-Stärke | Millennial-Wahrnehmung |
Loyalität & Engagement | "Mit viel Herz bei der Arbeit." Zeigt Engagement durch Resultate und Zuverlässigkeit. | Wird als "nicht sinnsuchend" oder "nicht emotional engagiert" verkannt, weil keine "Purpose"-Rhetorik verwendet wird. |
Widerstandsfähigkeit | "Ohne zu jammern." Ist es gewohnt, Herausforderungen still und pragmatisch zu lösen | Kann als "starr" oder "nicht bedürfnisorientiert" interpretiert werden, da Millennials/Gen Z offen über Befindlichkeiten sprechen. |
Zuverlässigkeit | "Ohne sich krank zu melden." Hohe Verantwortung und niedrige Fehlzeiten. | Diese Haltung könnte von jüngeren Generationen als "mangelnde Work-Life-Balance" oder "Ignoranz gegenüber mentaler Gesundheit" interpretiert werden. |
Menschlichkeit | "Menschlichkeit" in der Zusammenarbeit und Führung, oft als Mentor. | Wird als mangelnde emotionale Vulnerability oder als "zu traditioneller Führungsstil" fehlinterpretiert. |
2. Die Ignoranz gegenüber technologischer Souveränität
Das zentrale, ungerechtfertigte Vorurteil ist zum Beispiel die angenommene technologische Trägheit oder der mangelnde Umgang mit neuen Technologien. Das Gegenteil ist der Fall:
Die Gen X ist der digitale Pionier. Sie hat die gesamte digitale Transformation aktiv mitgestaltet. Sie kennt die Technik von Anfang an, von der ersten E-Mail bis zur Cloud. Sie hat Pros und Cons gesehen, was sie zu strategisch wertvollen Entscheidungsträgern macht, die Hypes kritisch hinterfragen.
Strategischer Wert: Während Recruiter nach "Digital Natives" suchen, die ein spezifisches Tool bedienen können, lehnen sie den analytischen Brückenbauer ab, der jedes Tool schnell beherrschen und dessen strategischen Wert einschätzen kann.
Sie hat Pros und Cons gesehen – das tief verwurzelte Wissen über Systemarchitekturen und technologische Sackgassen macht sie zu strategisch wertvollen Entscheidungsträgern.
Du hast Abitur? Du hast studiert? - Dann kannst du dich in jedes Tool einarbeiten. Diese Vorschusslorbeeren, dieser Pragmatismus der Generation Boomer sind gänzlich verlorengegangen in den letzten zwei Jahrzehnten. Hatte man früher mit diesen Abschlüssen gezeigt, dass man sich durch einen Wust an Informationen durcharbeiten kann, sich in neue Themen vertiefen und keine Angst vor "unlösbaren" Problemen hat - so sind sie durch die Bildungsinflation heute (scheinbar) nichts mehr wert. Wer die heutige Bildungslandschaft kennt, weiß, dass dies ein fundamentaler Denkfehler ist.
3. Die psychologische Falle: Listen, Kontrolle, Projektion und fehlendes Transferwissen
Die Einstellungsprozesse werden durch ein strukturelles Defizit des Recruiting-Personals verschärft: das Fehlen von strategischem Transferwissen und Urteilsvermögen.
Die Punkteliste statt Kompetenz: Bei der Bewerbung wird oft nur eine Punkteliste abgearbeitet. Hat der Bewerber "Genau dies" gemacht? Weshalb heute immer weniger Leute in der Lage sind Transferwissen herzustellen bleibt mir ein Rätsel. Fakt ist aber, dass Personaler und Mitarbeiter verschiedene Punkte im Lebenslauf nicht zu einer übergreifenden analytischen Kompetenz verbinden können.
Transferleistung zwischen Leben + Arbeit = mangelhaft: Der Fokus liegt auf der oberflächlichen Deckung der Anforderungen, anstatt die Fähigkeit der Gen X zu würdigen, gelerntes Wissen, berufliche Praxiserfahrung und gelebte Lebenserfahrung aus 20-35 Jahren übertragen und verbinden zu können. Stattdessen wird auf oberflächliche Deckung der Anforderungen geachtet; anstatt die analytische Tiefe und die strukturellen Erfahrungen der Gen X zu würdigen, die neue Herausforderungen schnell meistern kann.
Die Psychologie der Kontrolle: Millennials, die gegen die Hierarchien ihrer Babyboomer-Eltern kämpften, sehen in der autonomen Gen X unbewusst eine "alte" Kontrollinstanz. Dies manifestiert sich in Interviewfragen, die sich auf Nichtigkeiten konzentrieren (Anwesenheitszwang, Bedienen eines Tools) – ein Versuch, Autonomie durch formelle Kontrolle zu ersetzen und sich an messbaren Größen festzuhalten.
Dieser innere Konflikt manifestiert sich in Interviewfragen, die sich oft auf Nichtigkeiten konzentrieren oder Kontrollmechanismen, die aus der Unternehmensberatung kommen.
4. Die strukturelle Verfestigung des Bias: HR & KI
Dieses Problem ist nicht nur eine Frage der Generationen, sondern der Unternehmensstruktur:
HR / Personalabteilung:
HR als "Kostenstelle": Die Kosteneinsparungen haben HR von einem strategischen Partner zu einer Verwaltungseinheit degradiert, oft besetzt mit Junior-Kräften. Diesen fehlt nicht nur die Seniorität, sondern tiefliegende Erfahrungswerte, die man weder in einem Kurs erlernen kann, noch anderweitig aneignen.
Fehlendes Branchenwissen: Ein junger Recruiter, der nur die letzten 5 Jahre am Arbeitsmarkt kennt, kann die 20-35 Jahre lange, branchenübergreifende Expertise der Gen X nicht bewerten. Noch schlimmer: Er versteht nicht, was der Bewerber ihm/ihr sagen möchte. Er kann es auch nicht mit tieferen Fragen ausgleichen.
Verwaltungs- und Prozess-Managern: Sie sind Experten für die Optimierung von Bewerber*innen-Tracking-Systemen (ATS) oder DEI-Reporting, aber nicht notwendigerweise für die fachliche Bewertung der Bewerber.
Klartext reden und dem Management strategische Empfehlungen geben konnten, anstatt nur "Wunschzettel" abzuarbeiten.
Die KI-Beschleunigung der Oberflächlichkeit:
Die Ironie ist, dass KI-Systeme darauf trainiert werden, Muster aus historischen Daten zu erkennen. Wenn die historischen Einstellungen bereits von den Generationen-Biases der Millennials geprägt waren (Fokus auf "Passion", "Kultur-Fit", spezifische, moderne Tools) dann wird die KI diese Vorurteile nicht beseitigen, sondern automatisieren und skalieren:
Automatisierung des "Listenausfüllens": Die von Ihnen kritisierte Punkteliste wird durch KI und Algorithmen ersetzt, die Lebensläufe nach Schlagworten und formalen Kriterien durchsuchen.
Folge für Gen X: Der Gen X-Bewerber, dessen strategische Kompetenz in Transferwissen und branchenübergreifender Erfahrung liegt, liefert oft nicht die exakten Buzzwords oder Tool-Namen der aktuellen Stellenausschreibung. Die KI bewertet ihn sofort als "schlechten Match", obwohl er hochqualifiziert ist.
Beschleunigte Ablehnung von Erfahrung:
Die KI kann das Transferwissen und die grundlegende technologische Souveränität der Gen X (die die Technologie von der Pike auf gelernt hat) nicht erkennen. Sie sieht nur, dass der Bewerber nicht exakt X oder Y im letzten Jahr gemacht hat.
Die Gefahr: Die Prozesse werden schneller, aber die Qualität der Auswahl sinkt. Die KI eliminiert nicht den Bias – sie macht ihn unsichtbar und effizient.
HR-Abteilung wird noch schwächer:
Der Einsatz von KI entlastet die überlasteten, oft juniorigen HR-Abteilungen von Verwaltungsarbeit, aber er reduziert weiter die Notwendigkeit, kritisches Urteilsvermögen zu entwickeln.
Die Recruiter verlassen sich noch stärker auf die Vorauswahl der Maschine, statt eigene Lebens- und Berufserfahrung in die Bewertung einzubringen – eine Fähigkeit, die in den alten, seniorigen HR-Abteilungen noch vorhanden war.
5. Das Paradoxon "Diversität": Offenheit mit geschlossener Tür
Am schmerzlichsten ist die Beobachtung, dass die Generation, die sich mit Stolz als "offen" und "divers" betrachtet, gleichzeitig mit starken, verdeckten Vorurteilen (z.B. auch mit Age-Bias) beladen ist.
Der Anspruch an Diversity, Equity, and Inclusion (DEI) wird hochgehalten, aber die generationelle Vielfalt wird schlicht vergessen oder aktiv ausgeschlossen. Die Suche nach dem "Kultur-Fit" maskiert hierbei den Generationen-Bias: Man ist offen für jede Form von Vielfalt, solange die Arbeitsphilosophie oder die Kleidung der eigenen entspricht. Die bewusste Ablehnung des Pragmatismus und der Belastbarkeit der Gen X unter dem Deckmantel der kulturellen Passung ist ein entscheidender Grund, warum Unternehmen die stabilste, erfahrenste Kraft im Arbeitsmarkt vorschnell abreißen.
Fazit: Es gibt keinen Fachkräftemangel – es gibt ein Einstellungsproblem.
Der Fachkräftemangel ist in vielen Bereichen ein hausgemachtes Problem. Er entsteht nicht nur durch mangelnde Qualifikation, sondern durch die mangelnde Bereitschaft der einstellenden Unternehmen, Qualifikation jenseits der eigenen Generationen-Werte zu erkennen und zu schätzen. Wir lehnen systematisch die stabilste, erfahrenste und analytisch stärkste Kraft am Markt ab: die Gen X.
Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen und die drohende Deindustrialisierung Deutschlands abzuwenden, benötigen wir einen radikalen Kurswechsel, der von Mut, Vertrauen und echter Diversität getragen wird.
1. Die Notwendigkeit des Vertrauens und des Mutes
Wir müssen die Vertrauensbasis in der Arbeitswelt wiederherstellen und das ständige Annehmen des Schlimmsten beenden:
Mut zum Vertrauensbonus: Wir brauchen den Mut, einem Mitarbeiter wieder etwas zuzutrauen. Gen X ist mutig, kontaktfreudig und sieht (noch) positiv in die Zukunft. "Wir steigern das Bruttosozialprodukt" war nicht umsonst ein Hit in den neuziger Jahren.
Wiederherstellung der Leistungskultur: Die Gen X versteht, was echte Leistung und strategisches Transferwissen ist. Diese Generation muss wieder den Mut haben, Tacheles zu sprechen und das Ganze im Auge zu behalten. Die Zukunft gehört den Mutigen mit Herz, die bereit sind anzupacken.
2. Echte Diversität durch Gen X im Recruiting
Die Lösung ist nicht in noch jüngeren, von Algorithmen geleiteten Prozessen zu finden, sondern in der bewussten Rückbesinnung auf Lebens- und Berufserfahrung:
Gen X in HR und Führung & am Tisch bei Bewerbungen: Die Einstellung von Gen X in allen Unternehmensbereichen, insbesondere aber in HR und Recruiting, ist entscheidend. Nur wer selbst weiß, wie man komplexe Probleme löst, wer die Höhen und Tiefen sines Lebens erfahren und gemeistert hat, kann strategisches Transferwissen im Lebenslauf eines anderen erkennen und die richtigen Fragen stellen.
Wahre Diversität ist Nächstenliebe: Wir müssen aufhören, uns gegenseitig nach dem Schein zu beurteilen, sei es nach dem falschen Glanz der Digitalisierung oder dem falschen Anspruch der Passion. Wahre Diversität ist Nächstenliebe, die die Gabe des anderen in Dankbarkeit annimmt. Ehe wir den Splitter im Auge des Nächsten sehen, sollten wir alle den Balken aus unserem eigenen Auge ziehen.
3. Die Gen X als Brücke zur Zukunft von Gen Z
Die Generation X ist nicht nur ein Rettungsanker für das Heute, sondern der essenzielle Brückenbauer für die Zukunft – insbesondere zur Gen Z.
Anleitung in Souveränität: Wer soll die neue, pragmatische und nach klaren Regeln suchende Gen Z im Arbeitsalltag anleiten? Die Gen X besitzt die nötige Erfahrung und Souveränität im Umgang mit allen Generationen.
Mut zum Vertrauen: Führung muss den Mut aufbringen, dem Mitarbeiter etwas zuzutrauen, anstatt immer das Schlimmste anzunehmen. Damit meine ich keinen stumpfen Vertrauensbonus, sondern Freude am Miteinander.
Verständnis und Weisheit: Die Gen X kennt die starren Strukturen der Babyboomer, schätzt aber die Pragmatik und Ergebnisorientierung der Gen Z. Die Gen Z setzt viel von dem, was Gen X hart erkämpfen musste, wunderbar um: ruhig, mit wenig Worten, menschlich. Ja, und manche der Generation X können diese innere psychologische Weisheit erkennen und fördern, weil sie sich selbst im Spiegel angesehen und sich durch ihre eigenen Tiefen gearbeitet haben.
Mein persönliches Fazit?
Hört auf, euch gegenseitig die scheiß Tür zuzuschlagen und dem nächsten blödsinnigen gesellschaftlichen, politischen, unternehmerischen Trend hinterherzulaufen. Gen X hat das Licht schon mal angemacht und Gen Z hat die Augen, um zu sehen, wohin der Strom fließt.



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