Der Kontaktabbruch zwischen Eltern und ihren Kindern ist ein zutiefst schmerzhafter. Für die Kinder, wie für die Eltern. Es ist eine Wunde, die niemals ganz heilen wird. Weshalb? Weil der Kontaktabbruch nur die Spitze des Eisbergs ist. Er steht stellvertretend für einen langen, schmerzhaften Weg, der viele Jahre zuvor begonnen hat. Und die Ursachen reichen bis in die früheste Kindheit zurück.
In diesem Blog-Artikel möchte ich die Sicht der Kinder darstellen und was Eltern tun können. Denn viele Eltern können keine Gründe sehen, weshalb ein Kind keinen Kontakt mehr zu ihnen haben möchte. Und Kinder sind selbst noch im Alter unglücklich.
Der Abschied beginnt ganz langsam
Minute für Minute, Jahr für Jahr. Das Gebot „du sollst Vater und Mutter ehren“ ist tief im menschlichen Bewusstsein verankert – unabhängig von Religion, Herkunft oder sozialen Normen. Jedes Kind, das auf die Welt kommt liebt seine Eltern bedingungslos. Je älter wir werden, desto mehr nabeln wir uns von unseren Eltern ab. Das Band aber leibt ein Leben lang bestehen. Obwohl Bindung ein Urbedürfnis von uns ist entscheiden sich manche dazu, diese Bindung zu durchtrennen.
Es gibt viele Gründe, warum Kinder sich von ihren Eltern distanzieren, ja, sogar distanzieren müssen. Jeder dieser Gründe, den ich unten aufführe, ist für sich alleine schon so schwerwiegend, dass Kinder sich ein Leben lang bemühen müssen, um halbwegs ein "normales" Leben zu leben. So tief, so existentiell sind die Verletzungen.
Ständige Schuldzuweisungen und unerfüllbare Erwartungen
Ständige Erniedrigungen und Demütigungen. Dazu gehören auch (und vor allem) solche, die "nur gut gemeint sind"
Der Mangel an Zuneigung, an Umarmung, an liebevolle Gesten
Jede Freude wird sofort im Keim erstickt
Eltern verlangen, dass ihre Kinder sich um sie kümmern
Die Kinder sollen das Leben oder die Wünsche der Eltern realisieren bzw. leben, ob in der Partnerschaft oder im Beruf
Im Kind wir der Rivale gesehen, die Rivalin - sei es um Zuneigung, Talent oder den Beruf
Die Eltern sind zu sehr beschäftigt mit ihrem Beruf oder ihrer Firma. Es mag vielleicht nicht an materieller Zuwendung fehlen, aber mehr können oder wollen die Eltern nicht geben
Der Sohn hätte lieber ein Mädchen sein sollen, das Mädchen lieber ein Junge
Drogen- oder Alkoholsucht der Eltern
Psychische Erkrankungen der Eltern wie Depression oder Schizophrenie
Bevorzugung eines Geschwisters oder ungleiche Behandlung
Traumatische Erfahrungen: wie versuchte Abtreibungen, emotionale Misshandlungen, körperliche Gewalt, Schläge, sexuelle Traumatisierung
Eltern verlassen ihre Kinder: Adoption, Pflegefamilie, Heimunterbringung
All dies lässt sich zusammenfassen unter: Nicht gewollt, nicht geliebt, nicht geschützt, nicht beachtet.
Die Wunden, die Eltern hinterlassen
Es sind also diese tiefen Wunden und Verletzungen, die ein Kind irgendwann nicht mehr tragen und halten kann. Viele Kinder stellen sich dann sogar die Frage, weshalb ihre Eltern überhaupt Kinder haben wollten. Zu oft haben sie es schon versucht, mit ihrer Mutter oder mit ihrem Vater zu sprechen, über ihre Gefühle, über ihre Bedürfnisse. Aber vergeblich. Immer wieder kommt es zu Streit. Eltern wollen oder können nicht verstehen, was ihr Kind hat. In ihren Augen ist das Kind undankbar, aufsässig, verzogen. Der Satz "ich weiß nicht, warum mein Kind keinen Kontakt haben will" wird gebetsmühlenartig wiederholt. Nach den Ursachen kann oder will nicht gesucht werden.
Was bleibt übrig nach den Jahren des Versuchens, der zermürbenden Kämpfe? Die Kinder brechen den Kontakt ab. Als Selbstschutz. Und dennoch werden sie ihre Eltern "nie ganz los". Der Verlust, die Trauer, das Unverständnis durchdringt jede Zelle des Körpers und jeden Winkel der Psyche. Die Kinder erleben eine Flut an widersprüchlichen Gefühlen: Zerrissenheit, Wertlosigkeit, Überforderung, Heimatlosigkeit, Traurigkeit, Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit. Bindungstrauma und Verlusttrauma. Sie fühlen sich ständig bedroht, hintergangen, abgelehnt, und es scheint, als ob die ganze Welt gegen sie wäre.
Noch schlimmer: Keiner um sie herum ist in der Lage ist, ihre Gefühle und ihren Schmerz zu sehen und vor allem zu verstehen. Abgelehnte Eltern bekommen mehr Mitgefühl von der Gesellschaft. Wer den Kontakt zu seinen Eltern abbricht, wird stattdessen von Vorwürfen überhäupft und steht ganz alleine auf weiter Flur. "Wie kannst du so etwas nur tun?" "Deine Eltern haben doch so viel für dich getan!" "Deine Eltern waren doch so liebe Menschen!" "Also, wenn du dich nicht um sie kümmerst, ICH tue es." "Deine Eltern sind doch jetzt alt. Kannst du ihnen nicht verzeihen?" Und so beginnt eine weitere Spirale der Schuld, Scham und Wut.
Aber wer kann schon hinter die Türen sehen, in die Familien? Wieviel Not hier herrscht, wieviel Gewalt und vor allem wieviele unerledigte Themen die Eltern an ihre Kinder weitergeben. Währenddessen zermattern sich die Kinder innerlich und äußerlich: Bin ich eine gute Tochter? Bin ich ein guter Sohn? Darf ich das denn machen??
Wenn die Eltern alt werden
Gerade wenn die Eltern älter werden, versuchen die Kinder, oftmal wieder Kontakt aufzubauen. "Vielleicht verstehen sie mich jetzt?" "Bestimmt bekomme ich jetzt Kontakt zu ihnen." "Wenn ich sie pflege, werden mich meine Eltern endlich sehen." Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Was tun? Wieder in den Kontakt gehen? Die Pflege übernehmen oder sogar einen Teil der Vormundschaft, finanziell und gesundheitlich? Viele Kinder hoffen auf die Altermilde ihrer Eltern und, ja, auch auf Altersweisheit.
Aber leider wird es meistens noch schlimmer: Altersstarrsinn, Unzufriedenheit, Unverständnis und Wut gegen die Kinder werden jetzt offen gezeigt. In vielen Fällen kommt es zu einem verstärkten Versuch, Liebe und Anerkennung von den Kindern einzufordern – mittels Schuldgefühlen, Drohungen, emotionaler Erpressung oder finanzieller Erpressung. Besonders in Konflikten um das Erbe werden alte Verletzungen aufgerissen, oft auch Geschwister bewusst gegenseitig ausgespielt. Es beginnt ein Ringen um Anerkennung, Liebe und Zugehörigkeit. Ein Spiel, bei dem keiner gewinnt. Die unausgesprochenen Wahrheiten und die Familiengeheimnisse, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden, treiben die Spaltungen und Konflikte stattdessen nur noch tiefer und tiefer.
Eigene Kinder triggern vergessene Kindheitsverletzungen
Ein besonders schwieriger Moment tritt ein, wenn man eigene Kinder bekommt. Alte Wunden und unausgesprochene Gefühle kommen mit der Schwangerschaft, der Geburt, dem Kleinkind-Alter, bei Schuleintritt, während der Teenager-Zeit, etc. wieder an die Oberfläche. Wenn Kinder selber Eltern werden, kommen die verschütteten Erinnerungen, alles, was verdrängt wurde, wieder nach oben.
Mit erschrecken stellen viele fest, wieviel sie vermisst haben. Wie wenig sie getröstet wurden, wenn es ihnen schlecht ging. Wie wenig die Eltern für sie da waren, emotional und auch körperlich. Wie viel Bürde ihnen schon von Kindesbeinen aufgetragen wurde. Wie sehr sie ihre Gefühle zurückhalten mussten, weil Mama und Papa selber so bedürftig waren und keine Verantwortung übernommen haben. Weil die eigenen Eltern selber noch Kinder waren, die Mutter nach ihrer Mama sucht und der Vater immer noch nach der Anerkennung durch seinen Papa. Und man fragt sich: Wo bleibe ich in dem ganzen Chaos?
Der Weg zur Heilung - Selbst-Begegnung
Tiefsitzende, frühkindliche Verletzungen können nicht von heute auf morgen geheilt werden. Es geht auch nicht darum, Schuldzuweisungen zu machen oder den Kontaktabbruch zu rechtfertigen. Jeder Streit im außen, jede äußerliche Rechtfertigung macht es nur noch schlimmer.
Es geht darum, den Blick auf sich selbst zu richten. Selbst-Begegnung ist hierfür ein möglicher Weg. Wo liegen die Ursachen? Wo bin ICH verstrickt? Wo projiziere ICH? Erst wenn ich mich mit mir selbst beschäftige - idealerweise die Kinder wie die Eltern - habe ich eine Chance, einen neuen Weg zu finden. Erstmal für mich. Und vielleicht sogar im Miteinander.
Dieser Weg zur Heilung erfordert Selbstreflexion und die Bereitschaft, sich mit den eigenen Gefühlen auseinanderzusetzen:
Was ist mein Anliegen?
Welche Schritte bin ich bereit, dafür zu gehen?
Schaffe ich es, den Schmerz, die Wut, die Trauer, die Ohnmacht an die Oberfläche kommen zu lassen?
Wie wichtig ist mir mein eigenes Kind?
Wie wichtig bin ich mir?
Sind mir meine inneren Wahrheiten wichtiger als das, was andere von mir denken?
Nur wenn der Blick auf die eigenen Gefühle gerichtet ist, wird der Weg für etwas Neues frei. Die Wunden können zwar nie vollständig geheilt werden, aber es wird ruhiger und klarer und einfacher. Indem man sich selbst begegnet und den eigenen Schmerz anerkennt, kann der Prozess der Heilung beginnen – für sich selbst und vielleicht auch für die Familie. Wenn das gelingt, kann Raum entstehen für eine neue Form der Verbindung, die auf gegenseitigem Respekt und Verständnis beruhen.
Es ist ein langer, schwieriger Weg; aber es ist ein lohnender. Wer ihn gehen möchte, darf gerne einen persönlichen Termin bei mir machen.
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